Helmut Hesse
Den rheinischen Pfarrer Helmut Hesse kostete sein Einsatz für rassisch verfolgte Menschen im Nationalsozialismus das Leben. Auslöser war, dass er am 6. Juni 1943 tat, wozu Landesbischof Meiser nicht bereit war: In einem Bekenntnisgottesdienst hatte er die Kernsätze der Münchner Osterdenkschrift von der Kanzel verlesen.
Helmut Hesse wurde am 11. Mai 1916 in Düsseldorf als das jüngste von fünf Kindern des reformierten Theologen Hermann Hesse aus Ostfriesland geboren. Vater Hermann Albert Hesse (1877-1957) war Leiter des Predigerseminars in Wuppertal-Elberfeld und Moderator des Reformierten Bundes in Deutschland.
Zeit seines kurzen Lebens war Helmut Hesse kränklich bis schwer krank, aber dennoch ein fröhlicher und humorvoller Mensch. Während seines Theologiestudiums wurde ein unheilbarer Gehirntumor bei ihm diagnostiziert.
Am 9. oder 10. Juni wurden Helmut und sein Vater Hermann Hermann, damals Pfarrer der Bekenntnisgemeinde Wuppertal-Elberfeld, bei der Kriminalpolizei Wuppertal denunziert: Vater Hesse habe die grauenvolle Bombardierung und Zerstörung Barmens in seiner Predigt als »Gottesgericht« bezeichnet. Und »Sein Söhnchen Helmut, der jüngste Spross seiner Erzeugungsschlacht, scheint ein großer Verehrer der Juden zu sein. (…) Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verherrlicht er die Juden und kritisiert an den Maßnahmen des Staates zur Lösung der Judenfrage.«
Doch als das anonyme Schreiben bei der Kripo einging, waren Vater und Sohn Hesse bereits verhaftet. Die offizielle und lapidare Begründung für Helmut Hesses Verhaftung lautete: »Hesse ist wiederholt in öffentlichen Gottesdiensten für die Juden eingetreten und hat für sie gebetet.«
Nicht nur das: Seit Jahren vermittelte Helmut Hesse Pässe, fälschte Lebensmittelkarten und Fahrausweise. Als Vikar in Honnef hatte er dort schon 1941 deutliche Worte gegen den Mord an wehrlosen Menschen gefunden.
Die Gestapo wusste auch ohne die Denunziation Bescheid. Sie überwachte die Gottesdienste der beiden Hesses regelmäßig. Durch die akribischen Gestapo-Protokolle sind die Inhalte der Elberfelder Bekenntnisgottesdienste bestens dokumentiert.
Es war bereits ein Gottesdienst am 23. Mai, der die Gestapo Düsseldorf veranlasste, beim Reichssicherheitshauptamt ein Verfahren gegen Helmut Hesse einzuleiten. Hesse hatte gegen ausdrückliches staatliches Verbot in einem Fürbitten-Gebet die Namen von inhaftierten Mitgliedern der Bekennenden Kirche verlesen – auch Martin Niemöller und Heinrich Grüber waren darunter.
Den Gottesdienst am 6. Juni leiteten Vater und Sohn Hesse gemeinsam. Vater Hesse bezeichnete den verheerenden Bombenangriff, der wenige Tage zuvor Barmen getroffen hatte, als »gewaltiges Gericht Gottes« und rief Kirche und Volk zur Buße auf. Dann las Helmut Hesse – Wort für Wort vom anwesenden Gestapo-Beamten protokolliert – die Kernsätze der Münchner Osterdenkschrift vor: »Als Christen können wir es nicht länger ertragen, dass die Kirche in Deutschland zu den Judenverfolgungen schweigt. (…) Dem Staat gegenüber hat die Kirche die heilsgeschichtliche Bedeutung Israels zu bezeugen und [gegen] jeden Versuch, das Judentum zu vernichten, Widerstand zu leisten.«
Das brachte das Fass zum Überlaufen: Zwei Tage später, am 8. Juni 1943, wurden Helmut Hesse und sein Vater verhaftet. Bei der Hausdurchsuchung fanden die Schergen des NS-Staats weiteres belastendes Material, zum Beispiel Karl Barths Brief »An die Brüder und Schwester in Holland« vom November 1942 oder den »Hirtenbrief der katholischen niederländischen Bischöfe« vom Februar 1943. Die Vernehmungsprotokolle des folgenden halben Jahrs Untersuchungshaft lesen sich, so Röhm/Thierfelder (s. Quellen), »phasenweise wie theologische Erörterungen zur ‚Judenfrage’«, bei denen Hesse die heilsgeschichtliche Erwählung des jüdischen Volks betonte. Bewusst habe Gott mit Jesus einen Juden für das Heil der Welt bestimmt.
Vor der Düsseldorfer Gestapo nannte Helmut Hesse nun seine Quelle – die Osterdenkschrift an den bayerischen Landesbischof Hans Meiser. Doch wie war der junge Theologe überhaupt an den Text der Münchner Osterdenkschrift gekommen?
Der Hintergrund: 1935 hatte der NS-Staat der Bekennenden Kirche (BK) den Unterhalt eines eigenen Ausbildungswesens gesetzlich untersagt, um den widerspenstigen BK-Christen den Nachwuchs abzuschneiden und in die »Staatskirche« zu zwingen. Diejenigen, die es auf sich nahmen, in die Illegalität zu gehen, im Untergrund zu studieren und damit Gefängnis oder wenigsten Geldstrafen zu riskieren, nannte man »Junge Brüder«. Über sie kam es innerhalb der BK zu erheblichen Spannungen – die sich nicht zuletzt auch an der Haltung zur »Judenfrage« festmachte.
Nach der Verhaftung der Berliner BK-Prüfungskommission im Mai 1941 hatte auch die rheinische ihre Arbeit eingestellt und verwies die Kandidaten an andere, die intakten Landeskirchen. Helmut Hesse lehnte dies ab.
Berliner »Junge Brüder« hatten die Idee, sich in einer »Kirchlichen Arbeitsgemeinschaft« zu sammeln, um sich beraten und stärken zu können. Als Leiter gewannen sie Pastor D. Hermann Hesse, einen der wenigen älteren BK-Pastoren, die ebenfalls unbedingt an »Barmen« und »Dahlem« festhielten. An der konstituierenden Tagung im Januar 1943 konnte Hermann Hesse nicht teilnehmen, weil die Gestapo ihm verbot, Berlin zu betreten. Sein Referat verlas daraufhin sein Sohn Helmut. Einer der wichtigsten Themen, die in Berlin am 9. und 10. Januar 1943 besprochen wurden, erinnerte sich später eine Teilnehmerin, die Frage »ob es uns noch gelingen könnte, mehr Juden vor der Deportation zu retten.«
Auch der württembergische Pfarrer Hermann Diem hatte an dem Berliner Treffen teilgenommen. Er gehörte zu denjenigen, die Helmut Hesse, der weiter für seine »illegale« Ordination kämpfte, deren Rechtmäßigkeit bestätigte. Hesses »illegale« Ordination durch seinen Vater fand schließlich am 11. April 1943 statt. Die Folge: Sechs Tage später strich auch die rheinische Bekennende Kirche Hesse von der Kandidatenliste.
Sowohl bei Hesses Probepredigt an Sexagesimä (28. Februar) als auch bei einem Visitationsgespräch am Tag vor der Ordination war es um das Thema »Heil für Israel« gegangen: »Die Christen können das Erbarmen, von dem sie selbst leben, nicht schlimmer verspotten, als wenn sie die Juden verspotten, weil diese von Gott verworfen seien«, sagte Hesse.
Bei einem Besuch seines Vaters im Mai 1943 bei Diem in Stuttgart hatte dieser Hermann Hesse einen Durchschlag des von ihm formulierten Münchner »Laienbriefes« übergeben. Zurück in Elberfeld hatte er ihn seinem Sohn gegeben.
Zwei Tage nachdem Helmut Hesse die Osterdenkschrift im Gottesdienst verlesen hatte, wurden Vater und Sohn Hesse verhaftet. Den Tatbestand der »Heimtücke« sahen die Ermittler schnell als erfüllt an – aber man scheute einen Aufsehen erregenden Prozess. Der berüchtigte Chef des Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner, folgte den Empfehlungen seiner Beamten und ordnete »Schutzhaft« im Konzentrationslager an.
Am 13. November wurde beide ins KZ Dachau eingeliefert. Helmut Hesse, von der Untersuchungshaft geschwächt, kam nach wenigen Tagen in die Krankenbaracke. Dort starb er am 24. November 1943 an einer Sepsis, weil man ihm lebenswichtige Medikamente vorenthalten hatte.
Hermann Hesse wurde nach beharrlichem Drängen seiner Frau in Anbetracht seiner »besonders gelagerten familiären Verhältnisse« am 18. April 1944 entlassen. Von seinen vier Söhnen waren zwei in Russland gefallen, Helmut in Dachau umgekommen. Das Konsistorium der rheinischen Kirche hatte den Pfarrer schon zwangsweise in den Ruhestand geschickt, als er noch in Untersuchungshaft saß – »mit dem Ausdruck bester Wünsche für einen gesegneten Lebensabend«. (ms)
Quellen zu Pfarrer Hemut Hesse (1916-1943):
- Röhm/Thierfelder 4/II, S. 310ff.
- Wolfgang Gerlach: Als die Zeugen schwiegen. Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1993, S. 371ff.
- http://www.ekir.de/ekir/ekir-kirchengeschichte-rheinland_19824.asp
- http://www.exil-archiv.de/html/biografien/hesse.htm
- http://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2003_10_15_3_ekir_nationalsozialismus.html