Osterdenkschrift 1943
Die »Osterbotschaft Münchner Laien« (Ostern 1943)
Auszüge aus der Denkschrift des »Lempp’schen Kreises« an Landesbischof Hans Meiser gegen die Judenverfolgung (die Abschrift, die Meiser an seinen Kollegen, den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm weiterleitete, finden Sie hier, ebenso die Veröffentlichung der Denkschrift durch den Evangelischen Pressedienst der Schweiz).
»Hochwürdiger Herr Landesbischof!
Als Christen können wir es nicht mehr länger ertragen, daß die Kirche in Deutschland zu den Judenverfolgungen schweigt. In der Kirche des Evangeliums sind alle Gemeindeglieder mitverantwortlich für die rechte Ausübung des Predigtamtes. Wir wissen uns deshalb auch für sein Versagen in dieser Sache mitschuldig. …
Was uns treibt, ist zunächst das einfache Gebot der Nächstenliebe, wie es Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ausgelegt und dabei ausdrücklich jede Einschränkung auf den Glaubens-, Rassen- oder Volksgenossen abgewehrt hat. Jeder „Nichtarier“, ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der „unter die Mörder Gefallene“, und wir sind gefragt, ob wir ihm wie der Priester und Levit oder wie der Samariter begegnen. …
Dem Staat gegenüber hat die Kirche diese heilsgeschichtliche Bedeutung Israels zu bezeugen und jedem Versuch, die Judenfrage nach einem selbstgemachten politischen Evangelium zu „lösen“, d. h. das Judentum zu vernichten, aufs äußerste zu widerstehen als einem Versuch, den Gott des Ersten Gebotes zu bekämpfen. Die Kirche muß bekennen, daß sie als das wahre Israel in Schuld und Verheißung unlösbar mit dem Judentum verknüpft ist. Sie darf nicht länger versuchen, vor dem gegen Israel gerichteten Angriff sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie muß vielmehr bezeugen, daß mit Israel sie und ihr Herr Jesus Christus selbst bekämpft werden. …
Sie bezeugt … den Regierenden, daß diese allein durch den Glauben frei werden können von der Dämonie ihres politischen „Evangeliums“, das sie in ihrer durch kein Gesetz Gottes begrenzten Besessenheit verwirklichen wollen. …
Das Zeugnis der Kirche gegen die Judenverfolgung in Deutschland wird so zu einem mit besonderem Gewicht ausgestatteten Sonderfall des der Kirche gebotenen Zeugnisses gegen alle Verletzung der Zehn Gebote durch den Staat. Sie hat im Namen Gottes – also nicht mit politischen Argumenten, wie das ab und zu schon geschehen ist – den Staat davor zu warnen, daß er „den Fremdlingen, Witwen und Waisen keine Gewalt tut“ (Jer. 7,9), und ihn zu erinnern an seine Aufgabe einer gerechten Rechtssprechung in einem ordentlichen und öffentlichen Rechtsverfahren aufgrund humaner Gesetze, an das Gebot der Billigkeit im Strafmaß und Strafvollzug, an seinen Rechtsschutz für die Unterdrückten, an die Respektierung gewisser „Grundrechte“ seiner Untertanen und so fort.
Dieses Zeugnis der Kirche muß öffentlich geschehen, sei es in der Predigt, sei es in einem besonderen Wort des bischöflichen Hirten- und Wächteramtes. … Alles, was bisher von der Kirche in Deutschland in dieser Sache getan wurde, kann nicht als ein solches Zeugnis gelten, da es weder öffentlich geschah noch inhaltlich der Aufgabe des Predigtamtes in dieser Sache gerecht wurde. …«
Diese Osterbotschaft wurde als Denkschrift des »Lempp’schen Kreises« im April 1943 (Ostern fiel 1943 auf den spätesten möglichen Termin, den 25. April) im Landeskirchenamt von Landgerichtsrat Emil Höchstädter und dem Orientalistikprofessor Wilhelm Hengstenberg an Landesbischof D. Hans Meiser übergeben. Verfasst hat die Schrift der württembergische Pfarrer Hermann Diem, der zum Kreis um Albert Lempp gehörte.
Das Dokument »stellt wohl das entschiedenste und deutlichste Bekenntnis gegen die Judenverfolgung dar, das in Bayern jemals laut geworden ist« (Helmut Baier, Kirchenhistoriker, Leiter des landeskirchlichen Archivs Nürnberg von 1975 bis 2004).
Landesbischof Hans Meiser konnte sich nicht zu einer Veröffentlichung oder Kanzelabkündigung des Textes durchringen. »Möglicherweise glaubte er«, so der Münchner Kirchenhistoriker Armin Rudi Kitzmann, »das würde den Juden nicht nützen (war noch Schlimmeres denkbar als die längst angelaufene Vernichtung?), dafür aber der Kirche schaden.« Meiser gab die Denkschrift jedoch an den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm weiter. Das Dokument wirkte in der Folge auf unterschiedlichen Wegen weiter, wurde nachgedruckt und verlesen.
Den rheinischen Pfarrer Helmut Hesse kostete dies das Leben: Nachdem er den Text der Denkschrift von der Kanzel verlesen hatte, wurde er am 6. Juni 1943 von der Gestapo verhaftet und am 13. November ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert. Elf Tage darauf starb Hesse, der an einem Gehirntumor litt, weil man ihm ein lebenswichtiges Medikament verweigerte.