Wurms Kopie

Der bayerische Landesbischof Hans Meiser leitete eine Kopie der Osterdenkschrift an seinen Württemberger Kollegen Theophil Wurm weiter. Im Gegensatz zu Bayern, wo die Osterdenkschrift nicht erhalten blieb, befindet sich Wurms Kopie bis heute im landeskirchlichen Archiv Stuttgart. Erkennbar sind die Markierungen, die der 75-jährige Bischof mit rotem Buntstift an den Rand setzte, sowie der Vermerk »Ostern 1943 (Apr.)«.

xxx

Die Stuttgarter Kopie der Münchner Osterdenkschrift von 1943 (I).

Als »ältester evangelischer Bischof« in der evangelischen Kirche Deutschlands wandte sich Wurm am 16. Juli 1943 brieflich mit einem »offenen Wort« an Adolf Hitler und die Reichsregierung. Darin klagt Wurm nicht nur »im Namen Gottes« die »Verfolgung und Vernichtung« an, »der viele Männer und Frauen im deutschen Machtbereich ohne gerichtliches Urteil unterworfen werden«. Bis in einzelne Formulierungen hinein sind Gedanken aus der Münchner Osterdenkschrift in Wurms Brief eingeflossen: »Diese Absichten stehen, ebenso wie die gegen die anderen Nichtarier ergriffenen Vernichtungsmaßnahmen, im schärfste Widerspruch zu dem Gebot Gottes (…)« Wurm erwähnt weiter »Maßnahmen in den besetzten Gebieten«, die »das Gewissen und die Kraft unzähliger Männer und Frauen im deutschen Volk auf das schwerste« belasteten.

Ein Begleitschreiben oder ähnliches ist zu Wurms Kopie nicht erhalten. Möglicherweise hat Meiser die Kopie an Wurm persönlich übergeben. Es ist dies das Dokument, das dem Original der Münchner Osterdenkschrift am nächsten kommt. (ms)

Handschriftlich (Wurm?): Ostern 1943 (Apr.)

Hochwürdiger Herr Landesbischof,

Als Christen können wir es nicht mehr länger ertragen, daß die Kirche in Deutschland zu den Judenverfolgungen schweigt. In der Kirche des Evangeliums sind alle Gemeindeglieder mitverantwortlich für die rechte Ausübung des Predigtamtes. Wir wissen uns deshalb auch für sein Versagen in dieser Sache mitschuldig. Der zur Zeit drohende nächste Schritt: die Einbeziehung der sog. "privilegierten" Juden in diese Verfolgung unter Aufhebung der nach Gottes Gebot gültigen Ehen mag der Kirche die Veranlassung geben, das durch Gottes Wort von ihr geforderte Zeugnis abzulegen gegen diese Verletzung des 5.,6.,7.,8.,9. und 10. Gebotes und damit endlich das zu tun, was sie längst hätte tun müssen.

xxx

Die Stuttgarter Kopie der Münchner Osterdenkschrift von 1943 (II).

Wes uns treibt, ist zunächst das einfache Gebot der Nächstenliebe, wie es Jesus in Gleichnis vom barmherzigen Samariter ausgelegt und dabei ausdrücklich jede Einschränkung auf den Glaubens- Rassen- oder Volksgenossen abgewehrt hat. Jeder "Nichtarier", ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der "unter die Mörder Gefallene" und wir sind gefragt, ob wir ihm wie der Priester und Levit, oder wie der Samariter begegnen.

Von dieser Entscheidung kann uns keine "Judenfrage" entbinden. Vielmehr hat die Kirche bei diesem Anlaß zugleich zu bezeugen, daß die Judenfrage primär eine evangelische und keine politische Frage ist. Das politisch irreguläre und singuläre Dasein und Sosein der Juden hat nach der Heiligen Schrift seinen alleinigen Grund darin, daß dieses Volk von Gott als Werkzeug seiner Offenbarung in Beschlag genommen ist.

Die Kirche hat daher allen Juden unermüdlich zu bezeugen, so wie es die ersten Apostel – nach Golgatha ! – getan haben: "Euch zuvörderst hat Gott auferweckt seinen Knecht Jesus und hat ihn zu euch gesandt, euch zu segnen daß ein jeglicher sich bekehre von seiner Bosheit" (Apostelg. 3,26). Dieses Zeugnis kann die Kirche nur dann für Israel glaubwürdig ausrichten, wenn als sich zugleich um den "unter die Mörder gefallenen" Juden annimmt.

Sie hat dabei insbesondere jenem "christlichen" Antisemitismus in der Gemeinde selbst zu widerstehen, der das Vorgehen der nicht-christlichen Welt gegen die Juden, bezw. Die Passivität der Kirche in dieser Sache mit dem "verdienten" Fluch über Israel entschuldigt und die Mahnung des Apostels an uns Heidenchristen vergißt: "Sei. nicht stolz sondern fürchte dich. Hat Gott die natürlichen Zweige nicht verschont, daß er vielleicht dich auch nicht verschone." (Römer 11,20 f.)

Den Staat gegenüber hat die Kirche diese heilsgeschichtliche Bedeutung Israels zu bezeugen und jedem Versuch, die Judenfrage nach einem selbstgemachten politischen Evangelium zu "lösen", d.h. das Judentum zu vernichten, aufs äußerste zu widerstehen als einem Versuch, den Gott des 1. Gebotes zu bekämpfen. Die Kirche muß bekennen, daß sie als das wahre Israel in Schuld und Verheißung unlösbar mit dem Judentum verknüpft ist. Sie darf nicht länger versuchen, vor dem gegen Israel gerichteten Angriff sich selbst in Sicherheit zu bringen. Sie muß vielmehr bezeugen, daß mit Israel sie und ihr Herr Jesus Christus selbst bekämpft wird.

Das Zeugnis, das der Kirche durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter geboten ist, wird also durch die "Judenfrage" nicht etwa suspendiert. Das Phänomen der Juden, an denen sich die prophetische n Weissagung erfüllt, "daß sie sollen zum Fluch, zum Wunder, zum Hohn und zum Spott unter allen Völkern werden" (Jer. 29,18), bezeugt aller Welt den Gott des 1. Gebotes, der durch sein Handeln an Israel seinen Herrschaftsanspruch an die Völker kundtut. Dieses Phänomen hat die Kirche zu interpretieren. Sie hat also durch ihre Verkündigung dafür zu sorgen, daß die Regierenden diesem Zeugnis nicht auszuweichen versuchen durch Beseitigung dieses Phänomens. Das tut sie durch die Verkündigung des Evangeliums von dem Gott, der Israel und uns "aus Ägyptenland, aus dem Diensthause geführt hat" (2. Mose 20,2) und trotz aller Untreue der von ihm aus Juden und Heiden Erwählten seinem Bund treu bleibt. Sie bezeugt damit den Regierenden, daß diese allein durch den Glauben an Jesus Christus freiwerden können von der Dämonie ihres politischen "Evangeliums", das sie in ihrer durch kein Gesetz Gottes begrenzten Besessenheit verwirklichen wollen. Die Kirche hat also den Regierenden für ihr Verhalten gegen Israel nicht nur die Gebote der 2. Tafel zu predigen, sondern zugleich zu bezeugen, daß diese Predigt durch das 1. Gebot gefordert ist und daß die Regierenden nur im Gehorsam gegen den Gott des l. Gebotes ihr Amt recht ausrichten , d.h. das Gesetz recht handhaben können.

Das Zeugnis der Kirche gegen die Judenverfolgung in Deutschland wird so zu einem mit besonderem Gewicht ausgestatteten Sonderfall des der Kirche gebotenen Zeugnisses gegen alle Verletzung der 10 Gebote durch die staatliche Obrigkeit. Sie hat im Namen Gottes – also nicht mit politischen Argumenten, wie das ab und zu schon geschehen ist – den Staat davor zu warnen, daß er "den Fremdlingen, Witwen und Waisen keine Gewalt tut" (Jer.7,6), und ihn zu erinnern an seine Aufgabe einer gerechten Rechtsprechung in einem ordentlichen und öffentlichen Rechtsverfahren auf Grund humaner Gesetze, an das Gebot der Billigkeit im Strafmaß und im Strafvollzug, an seinen Rechtsschutz für die Unterdrückten, an die Respektierung gewisser "Grundrechte" seiner Untertanen usw.

Dieses Zeugnis der Kirche muß öffentlich geschehen, sei es in der Predigt, sei es in einem besonderen Wort des bischöflichen Hirten- und Wächteramtes. Nur so kann es seine Aufgabe erfüllen, allen denen, die legislativ oder exekutiv an dieser Verfolgung mitwirken, und zugleich den betroffenen Juden und der in ihrem Glauben angefochtenen christlichen Gemeinde die schuldige Unterweisung der Gewissen zu geben. Alles, was bisher von der Kirche in Deutschland in dieser Sache getan wurde, kann nicht als ein solches Zeugnis gelten, da es weder öffentlich geschah noch inhaltlich der Aufgabe des Predigtamtes in dieser Sache gerecht wurde.

Wenn wir uns an Sie wenden, hochwürdiger Herr Landesbischof, damit Sie das der Kirche gebotene Zeugnis veranlassen, so bitten wir Sie dringend: Sehen Sie in unserem Schritt nicht nur eine jener Mahnungen zu kräftigerem Reden, denen Sie auf Grund der größeren Übersicht, die Sie durch Ihr hohes Amt haben, allerlei Erwägungen der Zweckmäßigkeit eines solchen Schrittes in Blick auf die möglichen Folgen, nicht nur für die Kirche, sondern auch für die betroffenen Juden selbst entgegenstellen könnten. Es geht uns nicht um Komparative. Wir meinen auch, jene Folgen schon selbst soweit bedacht zu haben, als dies erlaubt und geboten ist. Aber es geht uns um etwas anderes:

Als lutherische Christen wissen wir mit Art. V des Augsburgischen Glaubensbekenntnisses, daß wir ohne das Predigtamt der Kirche nicht zum Glauben kommen können. Darum treibt uns neben dem Mitleid für die Verfolgten die Angst, das Predigtamt unserer Kirche könne durch sein Schweigen sein Dasein sichern wollen um den Preis, daß es dafür seine Vollmacht und Glaubwürdigkeit zu binden und zu lösen verliert. Und damit wäre alles verloren – mit der Kirche wäre auch unser Volk verloren.

München, an Ostern 1943.

Quelle: LKA Stuttgart, Signatur D 1, Nr. 108 (Nachlass Wurm)